Sonntag, 17. Mai 2015

Wer Kunststoff kennt nimmt Stahl

Spielerfrau, Waffenhändlerin, Unterwäschemodel – in meinem nächsten Leben werde ich einen anständigen Beruf lernen!

Seltsamerweise habe ich noch nie jemanden getroffen, der auf „Ich habe Kunststofftechnik studiert!“ mit „Wow! Cool!“ geantwortet hat. Wohlwollende Worte klingen meist „Ehrlich – das kann man studieren?!?!?!?“, weniger wohlwollende gehen häufig in Richtung des Titels. Damit wächst der normale Maschinenbauer auf. Das ist sein Mantra, von dem er nie mehr abrücken wird. In seltenen Fällen kommt Aluminium in Frage, in anderen, wenn’s denn nicht rosten darf, Edelstahl. Das war’s dann auch schon.

Wenn ich jetzt hier ein Plädoyer für Polymere halte, könnte ich mich dem – natürlich korrekten – Vorwurf der Befangenheit aussetzen. Also sage ich nur so viel: Kunststoffe sind tolle Werkstoffe, ABER man muss sie halt richtig einsetzen. Und ihren manchmal schlechten Ruf haben sie, weil genau dieser letzte Punkt häufig nicht berücksichtigt wird. Am Anfang muss immer die genaue Definition der Anforderungen stehen: Temperatur, Bauteiltoleranz, Umgebung, sonstige Anforderungen (z. B. chemische Beständigkeiten) usw.

Was das in einem Bastelblog zu suchen hat? Eigentlich wenig, wenn ich nicht gestern die Bastelzeit damit verbracht hätte, Grundlagen aus dem Grundstudium anzuwenden – denn solange ich noch dieses Leben und nicht das nächste lebe, werde ich damit wider Erwarten doch ab und an mal konfrontiert… :-) 

Aufgabenstellung: Ändere den Grad der Sorgenfalten auf des Mannes Stirn.

Im Rahmen eines Projektes gibt es ein paar unerwartete Messdaten, deren Ursachenfindung nicht einfach ist. Unter anderem wurde ein nicht spezifiziertes Polymer in einer recht anspruchsvollen Umgebung eingesetzt, woraufhin mein Ehrgeiz natürlich geweckt war.

Kunststoffe identifizieren geht am einfachsten in einem dafür spezialisierten Labor mit feinster Analytik. Blöderweise leider auch der zeit- und insbesondere geldintensivste Weg, zu einer Antwort zu gelangen. Es geht in Teilen, die weiter sind als man denkt, auch anders, und insbesondere DIE Laborpraktika habe ich nicht vergessen :-) 

Erster Eindruck: Es handelt sich um ein graues Polymer, das als Rundmaterial vorliegt. Oberfläche nicht paraffinartig, kann mit dem Fingernagel nicht eingeritzt werden, klingt beim Fallenlassen nicht metallisch sondern eher dumpf und geht in Wasser unter. Damit können Polyethylen sowie Polypropylen schon mal ausgeschlossen werden.

Die Probe lässt sich spanend bearbeiten, wobei der Span nicht bricht:


Und die Dichte des schön abgedrehten Zylinders wird mit 1,37 g/cm³ bestimmt. Was auf PET, PVC, PES oder irgendeinen anderen Kunststoff, der als Copolymer/Blend oder mit Füllstoffen vorliegt, hindeutet…

Weiter zur Brandprobe, der Teil, an den ich mich noch sehr gut aus meinem Studium erinnern kann. Bei der Beurteilung geht es um das Brennverhalten an sich: brennt, brennt nicht, brennt nur in der Flamme, brennt auch außerhalb, rußt, schmilzt, tropft dabei, zersetzt sich und so weiter. Ein ganz wichtiges Indiz ist dann der Geruch, da dieser sehr häufig sehr typisch ist.


In unserem Fall lässt sich die Probe entzünden, brennt auch außerhalb der Flamme selbständig mit gelblicher Flamme weiter, schmilzt tropfend UND stinkt nach verbranntem Horn (einfach mal Hufspäne anzünden – vergisst man nie im Leben ;-) ). Letzteres ist ein ziemlich deutlicher Hinweis auf Polyamid. Hmmm…

Polyamid lässt sich mit Ameisensäure kleben. Wäre ein Versuch wert, um die Vermutung verifzieren zu können. Blöderweise keine Ameisensäure im Haus (?!?!?!?). Aber es gibt eine Apotheke, die am Samstag Nachmittag geöffnet hat. Während der Mann sich überlegt, ob man mir wohl ne 30%-ige Lösung anvertraut, komme ich zu seinem Entsetzen mit reiner, wasserfreier Ameisensäure nach Hause (verhandeln kann ich *g*). Das Zeug ist in höchstem (!) Maße ätzend, da sollte man so konzentriert wie die Lösung sein und selbstverständlich mit Sicherheitsbrille und Handschuhen arbeiten (und möglichst keine Kunstfasern tragen…). Schöner Gag am Rand: Ich hole meine Sicherheitsbrille aus dem Etui und stelle fest, dass der Metallbügel gebrochen ist… Daher die dunkle Alternative:


Folgendes Ergebnis:



Der Kunststoff wird angelöst / schmilzt!

Der Verdacht erhärtet sich und ich tippe stark auf ein gefülltes / verstärktes PA. Da gibt es gängige Typen, die mit Glasfasern gefüllt sind. Und – Bingo – PA 6 GF30 hat zufällig auch die passende Dichte mit 1,36 - 1,37 g/cm³. Da muss man immer ein bisschen vorsichtig sein, weil viele Eigenschaften natürlich herstellerspezifisch sind.

Eine 200-fache Vergrößerung der abgedrehten Fläche zeigt, yep, könnte sein:  


Polyamid ist ein toller Werkstoff, der auch häufig im Maschinenbau Anwendung findet. Besonders weil er eine gute Festigkeit und thermische Beständigkeit aufweist, schlagzäh ist, über ein gutes Gleitreibungsverhalten verfügt und sich gut verarbeiten lässt. Bisschen blöd ist allerdings die Wasseraufnahme. Die kann je nach Typ und Modifikation fast bis zu 10 % bei Wasserlagerung betragen und bei Normklima schon so bis zu 3 %. Heißt für die Verwendung / Konstruktion: DAS muss berücksichtigt werden. Bei unverstärktem PA (z. B. Ultramid A und B) beträgt die Volumenänderung max. 0,9 % und die mittlere Längenzunahme 0,2 – 0,3 % pro Gewichts% aufgenommenem Wasser. Glasfaserverstärkte Varianten sind deutlich maßstabiler, hier hängt es allerdings ganz stark von der Verteilung der Faser im Kunststoff ab, wie sich die Maße ändern.

Wie auch immer: Wasseraufnahme ist ebenfalls ein Indikator für PA und natürlich für den spezifischen Einsatzzweck sehr wichtig.

Um die Messung zu beschleunigen (Geduld ist nicht meine Stärke) knapp 5 g Späne genommen, gewogen, 90 min im Backofen bei 70°C getrocknet und wieder gewogen, auf eine Differenz von ziemlich genau 2 % gekommen und dann die Späne für 2 h in Hahnawassa gelagert. Das ist dann der Punkt, wo man sich denkt: So weit, so gut – aber wie kriege ich jetzt das verdammte Wasser heraus??? Mit Druckluft abpusten dürfte zu hohem Materialverlust führen. Also Späne ins Sieb der Teekanne gestopft, zwei Mal mit Spiritus übergossen und dann trocknen / abdampfen lassen.


Ich gebe zu, hier leidet die Präzision, aber ein Wert von 6,5 % Wasseraufnahme bei Wasserlagerung stimmt recht gut mit der Kern-Datenbank überein.

Fazit: Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei dem betrachteten Material um ein PA 6 mit 30 % Glasfasern handelt. Es kann natürlich auch irgendein anders verstärkter PA oder gar ein verstärktes Copolymer oder was vollkommen exotisches sein, aber man darf sich auch gerne an Wahrscheinlichkeiten orientieren ;-) 

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